Mysterium Osten

Gepostet am: 1. September 2019 um 11:35

In wenigen Stunden werden die Wahlen in Sachsen und Brandenburg gelaufen sein. Und wieder werden alle unisono auf die Ostdeutschen einschlagen, weil die AfD (mit der ich, das betone ich aus aktuellem Anlass immer wieder gerne und ausdrücklich, nichts zu tun habe) in beiden Ländern ein Rekordergebnis einfahren wird und den regierenden Parteien im günstigsten Falle bis auf wenige Prozentpünktchen auf die Pelle rückt. Und wieder wird man fragen, wieso die Ostdeutschen trotz der Billionen (unter dem macht man es ja nicht mehr) von gutem (vermeintlich westdeutschem) Steuergeld noch immer nicht so wählt wie der brave Bürger in den alten Bundesländern.

In den letzten Wochen machten sich Kolonnen von Mainstreamjournalisten auf, die Stimmung im Osten zu ergründen und taten die Ergebnisse ihrer Expeditionen in seitenlangen Artikeln oder wahlweise halb- bis dreiviertelstunden füllenden Fernsehbeiträgen kund. „Woher kommt die Wut?“, „Wie tickt der Osten?“, „#wasmichamostenstoert“ und ähnliche Ergüsse vermeintlicher Edelfedern der Berliner Journalistenelite waren nicht zu umgehen, wenn man regelmäßig die Mainstreammedien konsumiert. Abgesehen davon, dass manche der Wahrheit zumindest nahe kamen, ohne sie jedoch laut auszusprechen, führte man die typischen Protektionisten vor, die den abgehängten Osten repräsentieren, so wie ihn sich der Bundesbürger West nach dreißig Jahren BILD-Lektüre vorstellt. Alte, arbeitslose Männer mit Bierflasche in der Hand, die auf „die da oben“ schimpfen, über zu viele Ausländer fabulieren, obwohl es in ihrem Dorf keine gibt und lautstark fordern, dass sich der Staat mehr um sie kümmern solle. Und quasi als Gegenentwurf die zugewanderten Westdeutschen. Jung, smart, anpackend. Sie sanieren alte Schlösser, bringen Kultur in die Dörfer, bauen Biogemüse an und regen sich höchstens über zu langsames Internet auf.

Und was ist dazwischen? Wo sind die ostdeutschen „Normalos“? Diejenigen, die ebenfalls jeden Tag arbeiten und Steuern zahlen (ja, liebe Westdeutschen, auch den Soli!), die sich engagieren in Sportvereinen, Feuerwehren, im Karneval oder dem THW? Die meisten dieser Menschen haben ebenfalls gebrochenen Biographien, vielfache Jobwechsel vor allem eines: ein Leben vor der Wende. Und jetzt nähern wir uns ganz langsam der Ursache für den Frust, der sich jetzt, dreißig Jahre nach dem Mauerfall im Osten die Bahn bricht.

Als die DDR-Bürger 1990 auf die nahende deutsche Einheit blickten, taten es viele mit einem mulmigen Gefühl. Das waren vor allem solche, die im untergehenden Staat in verantwortlicher Position gestanden hatten und sich an den Fingern abzählen konnten, dass sie im neuen System keine reelle Chance haben würden. Und sie sollten Recht behalten. Die allermeisten wurden als „systemnah“ mit mickrigen Renten abgespeist und nicht selten über die (West-)Medien der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen. Unter dem Deckmantel der der Meinungs- und Pressefreiheit wurden Menschen wahlweise der Lächerlichkeit preisgegeben, zu Monstern aufgeblasen oder einfach nur denunziert. Der erste Satz des Grundgesetzes (zur Erinnerung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) galt offenbar nicht für Ostdeutsche.

Die absolut meisten Bewohner der DDR jedoch waren erfüllt von einer (ebenfalls medial genährten) naiven Vorfreude auf die Segnungen der alten Bundesrepublik. Sie erwarteten eine Fortsetzung der Jubelorgien und der glückseeligen Besoffenheit des Novembers 1989. Doch ein Jahr später waren sie jedoch vor allem eines: Konkurrenten. Und so taten die westdeutschen „Brüder und Schwestern“ das, was sie im Gegensatz zu ihren neuen Landsleuten 40 Jahre lang gelernt und praktiziert hatten. Sie fuhren die Ellenbogen aus.

Was in den neunziger Jahren in den Osten hineinschwappte, waren nicht nur Ströme von Geld. Es waren Heerscharen von Geschäftemachern, mehr oder minder brauchbaren „Führungskräften“ und Beamten, die im Westen im vermeintlichen „Karrierestau“ steckten (eine nette Umschreibung für Unfähigkeit) und auch dem einen oder anderen gutmeinenden „Aufbauhelfer“, der sich, motiviert von der „Buschzulage“ von Montag bis Freitag in den wilden Osten traute.

Ich habe mich in den vergangenen Jahren oft mit Westdeutschen unterhalten, inzwischen habe ich sogar sehr gute Freunde dort. Allen Gesprächen waren zwei Sachen gemein. Zum einen ihre Berichte über die ersten Besuche in den neuen Ländern. So müssen sich die ersten Siedler im wilden Westen Amerikas gefühlt haben, als sie auf Indianer trafen. Oder Amundsen auf dem Weg zum Südpol. Das heißt sie trafen auf eine von Ruinen bestandene Wildnis, in der die Einheimischen (natürlich immer sächselnd) wahlweise arbeitslos oder bei der Stasi waren, von nichts eine Ahnung hatten und sich über mitgebrachte Bananen freuten. Ich lasse das mal an dieser Stelle so stehen.

Das zweite ist immer der erstaunliche Fakt, dass die Menschen im Wesen genau wissen, wie wir in der DDR gelebt haben. Und dass, obwohl sie eigentlich noch nie hier gewesen sind oder das Land links und rechts der Transitautobahn (ein Kapitel für sich!) durch die Seitenscheibe ihres VW Golf auf dem Weg nach Berlin betrachtet haben. Ich habe es übrigens inzwischen aufgegeben, mich dagegen aufzulehnen, zumal Frau Merkel, die anscheinend in einer anderen DDR als der Rest ihrer Mitbürger aufgewachsen ist, kräftig dabei hilft, diese Ressentiments zu bedienen.

Liebe Mitbürger West, es ist diese Art der Herablassung, mit der Ihr uns Ostdeutsche seit 30 Jahren bedenkt. Es ist die Wut über alle diese Demütigungen, die Herabwürdigung unserer Biographien, den Hochmut, den wir ertragen mussten, dieses „lächerlich gemacht werden“, dass immer wieder hervorgeholt wird („Ja ja, es war nicht alles schlecht!“ grins), die jetzt, nach so vielen Jahren dafür sorgt, dass wir Ossis immer noch nicht in Eurem Deutschland angekommen sind. Wobei wir uns noch nicht einmal sicher sind, ob Ihr uns überhaupt jemals dort haben wolltet, oder es nur auf unsere Grundstücke und Häuser abgesehen hattet (okay, jetzt kam wieder der Zyniker in mir durch, aber das sei mir gestattet).

Um endlich wirklich eines zu werden (ist es dafür nicht längst zu spät?) sollte endlich diese Kolonialattitüde abgelegt werden und Ostdeutschland und seine „Ureinwohner“ letztendlich als Menschen mit einer Geschichte angesehen werden, die gleichberechtigt neben der der Westdeutschen steht. Das beginnt bei der endlich notwendigen Anerkennung der Bildungsabschlüsse (entgegen allen Verlautbarungen ist das nämlich immer noch nicht geschehen) und endet noch lange nicht bei der Besetzung wichtiger Führungsposten in Wirtschaft, Verwaltung und Politik.

Wenn man wirklich der AfD im Osten den Wind aus den Segeln nehmen will, dann sollte man endlich diese Probleme mit vollem Ernst angehen und das Thema nach den Wahlen wieder stillschweigend beerdigen, wie es wahrscheinlich der Fall sein wird.