Streitkultur? Fehlanzeige!

Gepostet am: 21. September 2020 um 10:17

Dieser merkwürdige Sommer 2020 ist nun vorbei und nicht nur die Temperaturen sinken. Auch das gesellschaftliche Klima kühlt sich zunehmend ab. Wie vermisse ich die Zeiten, als eine Diskussion noch dem Austausch von Argumenten diente, man sich zwar heftig stritt, aber hinterher wieder in den Armen lag. Streit ist eigentlich etwas positives, denn nur wenn man sich streitet, muss man sich mit den eigenen Ansichten auseinandersetzen, sie gegen die des Gegenüber abwägen. Um dann festzustellen, dass der andere vielleicht hier und da im Recht ist und man selbst auf dem Holzweg. Oder umgekehrt. Und wenn der Diskussionspartner halbwegs ebenso gestrickt ist, wie man selbst, setzt bei ihm der gleiche Prozess ein und beide profitieren davon.

Alles vorbei! Geschichte! Schöne Erinnerung.

Im Deutschland von 2020 scheint es nur noch eine Wahrheit zu geben. Wer sich wagt, diese in Frage zu stellen, riskiert im mildesten Falle heftigen Gegenwind, der sich rasend schnell zu einem Shitstorm entwickeln kann, Beschimpfungen, Beleidigungen und in gar nicht mehr so seltenen Fällen gesellschaftliche Ächtung, verbunden mit dem Verlust an Reputation, Job und damit Einkommen.

Vor ein paar Tagen beteiligte ich mich mal wieder an einer Facebook-Debatte (ich weiß, ich sollte auf meine Frau hören und das einfach lassen). Thema dieses Mal die Diskussion um Nordstream 2, die russische Erdgas-Pipeline durch die Ostsee. Wer die Medien ein wenig verfolgt, wird unschwer feststellen, dass sich die GRÜNEN massiv dagegen angehen und die Position der USA vertreten, die den Europäern natürlich ihr Fracking-Gas andrehen wollen. So what! Auf jeden Fall knallte mir ein Anhänger der ehemaligen Öko- und Friedenspartei unter einen meiner Beiträge (wörtlich): „Sind sie ein russischer Bot oder ist das wirklich ihre Meinung?“

Hallo, was ist denn das für eine Debattenkultur? Natürlich bin ich kein Bot (wie er bei einem Klick auf mein Profil unschwer hätte feststellen können) und ja,selbstverständlich ist das meine Meinung. Wahrscheinlich ging dem Herrn nicht in den Kopf, dass in diesem Land auch noch Leute herumlaufen, die nicht durch dem durch die Mainstream-Medien getragenen Kurs folgen wollen und sich den Luxus einer eigenen Meinung erlauben.

In die gleiche Richtung zielt der Trend einiger besonders Glaubensfester, sich gezielt von allen zu „entfreunden“ (auch so ein Wort, dass es früher nicht gab), die zum Thema Corona anderer Meinung sind als die Presse (obwohl auch dort die Front langsam zu bröckeln beginnt, aber das ist ein anderes Thema). Mit diesen Covidioten (Zitat der SPD-Vorsitzenden Esken – den Namen muss man sich nicht merken, die ist bald wieder Geschichte) will man nichts zu tun haben.

Noch einmal zum Verständnis: Meinungsfreiheit, so wurde uns ahnungslosen Ossis 1990 erklärt, bedeutet, ich kann meine Ansichten frei äußern, ohne dafür in den Knast zu gehen. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die sind marginal. Okay. Aber Meinungsfreiheit heißt für mich eben auch, meine Meinung zu äußern, ohne beschimpft, beleidigt oder ausgegrenzt zu werden. Man darf mir widersprechen, so wie auch ich anderen widersprechen darf. Das nennt man dann Debatte. Und die ist, so wurde uns Staunenden erklärt, die Basis der Demokratie.

Wenn heute jemand äußert: „Ich interpretiere die Zahlen des RKI aber anders als Herr Wieler.“, dann wäre eine vernünftige Reaktion: „Okay, lass uns mal darauf schauen und darüber reden.“ und nicht „Du bist ein Coronaleugner, ein Rechter! Mit dir rede ich nicht mehr!“

Das gleiche könnte man zum leidigen Thema Maskenpflicht schreiben. Jedwede kritische Äußerung oder etwa der Hinweis auf eine zu diesem Thema vor einigen Jahren veröffentlichte Doktorarbeit führen zu teilweise hysterischen Reaktionen seitens derjenigen, die fest an die Saga glauben, die man uns vorgibt.

Es steht jedem frei, an Herrn Drostens Lippen zu hängen, in Angst zu leben und sich möglicherweise seine eigene Gesundheit zu ruinieren. Aber das rechtfertigt noch lange nicht, Menschen mit anderer Meinung zu beschimpfen, zu beleidigen oder auszugrenzen. Auch wenn man das Recht auf seiner Seite vermutet. Wenn aus meinen Philosophie-Semestern etwas hängen geblieben ist, dann der Fakt, dass es keine absolute Wahrheit gibt.

Mein Aufruf an alle kann nur sein, verbal wieder ein wenig abzurüsten, einen Schritt zurückzutreten und für einen Moment über die Argumente des anderen nachzudenken. Wenn wir uns weiter spalten lassen und gegenseitig die Köpfe einschlagen, machen wir genau das, was sich gewisse Leute erhoffen.

Und den Gefallen werden wir ihnen nicht tun.